75 Jahre Firma Harr
Wer kennt sie nicht, die Rabattmarkenheftle aus längst vergangenen Zeiten, die man im Tante-Emma-Laden bekam, dann fleißig Märkle sammelte und schließlich einlösen konnte, wenn alles geklebt war.
Als diese Heftchen immer beliebter wurden, kurz nach dem 2. Weltkrieg, konstruierte der Firmengründer Rudi Harr den kleinsten Rundfunkempfänger der Welt. Dieser war gerade mal 9x9x11 cm groß. Daraufhin erhielt er diverse Angebote als Konstrukteur, die er jedoch allesamt ablehnte und sich lieber als Rundfunkmeister in Leutkirch selbständig machte.
Am 1. Juli 1949 eröffnete er in der Bachstraße sein erstes kleines Geschäft. Bereits ein paar Jahre später zog der Betrieb in größere Geschäftsräume gegenüber um und der erste Lehrling wurde ausgebildet. Anfangs fuhr man die selbstgebauten Radiogeräte noch mit dem Motorrad aus. Doch bereits 1951 wurde das erste Firmenauto – ein VW-Käfer – angeschafft. Wieder wurden die Räumlichkeiten zu klein und so fand 10 Jahre nach der Firmengründung der Umzug in das jetzige Firmengebäude in der Unteren Grabenstraße 28 statt.
1969 kam ein Erweiterungsbau der Werkstatt hinzu, wo bis zu 6 Techniker beschäftigt waren.
1983 übernahm Sohn Achim die Firma und baute das Segment HiFi stetig aus. Der gelernte Meister der Radio- und Fernsehtechnik besuchte viele Fortbildungen und war u.a. 1986 beim ZDF in Mainz, um eine Kameramann-Schulung zu absolvieren und das Filmemachen vom Drehbuch bis zum Schnitt zu lernen. Ende der 1980er Jahre boomte der Verkauf von Videokameras. Achim Harr gab selber Schulungen und die ersten Filmschnitt-Computer kamen zum Einsatz. So entstand auch die Idee zur eigenen Videoproduktion. Während fast 25 Jahren filmten Achim und Margarete Harr unzählige Hochzeiten, Geburtstage und andere Veranstaltungen, produzierten Werbefilme und Event-Videos. Dabei waren sie in ganz Süddeutschland, Österreich und der Schweiz unterwegs. Highlights waren Aufträge in Barcelona und auf Ibiza.
Parallel entstand der Wunsch nach einer Veränderung des Ladens. Durch die großen Märkte und später auch das Internet wuchs die Konkurrenz und Achim Harr und seine Frau suchten nach einer neuen Richtung. Mit dem 50-jährigen Firmenjubiläum 1999 begann die Umstrukturierung zum Kaffee- und Weinhaus. Erstmals wurden neben Radio- und Fernsehgeräten auch Kaffeevollautomaten angeboten. Nach und nach kamen neue Artikel wie Kaffee, Wein, Schokolade, Tee und Accessoires hinzu, die Radios und Fernseher verschwanden allmählich aus den Regalen.
Dieser Umschwung auf ein komplett anderes Sortiment war eine innovative Entwicklung, wie sie im Leutkircher Einzelhandel wohl einmalig vollzogen wurde. Im Jahr 2000 wurde die Werkstatt aufgegeben und zu einem mediterran gestalteten Raum umgebaut. Hier präsentierte man den Brautpaaren per Beamer die Hochzeitsfilme und veranstaltete die ersten Weinproben.
Ende 2022 entschieden sich die Harrs, der Videoproduktion Adieu zu sagen. Bereits in den Corona-Jahren zuvor gab es kaum noch Hochzeiten zu filmen, so dass der Entschluss nicht so schwer fiel. Vielmehr genießen die beiden es inzwischen, dass sie mehr Freizeit haben und nicht jedes Wochenende auf „Film-Reise“ sind.
Außerdem ist im Terminkalender nun mehr Platz für Weinproben, die oft samstags stattfinden.
Zum Weinliebhaber wurde Achim Harr durch seine Italien- und Frankreichreisen. Er erkundete viele bekannte Weingebiete. So ergab sich die Idee zum Weingeschäft. Er hat sich belesen, verkostet und immer wieder Weinseminare besucht. Seine Weine bezieht er aus Italien, Frankreich und Spanien. Die edlen mundgeblasenen Riedel-Weingläser gehören für ihn selbstverständlich dazu. „Die Form des Glases entscheidet über das Geschmackserlebnis“, weiß Achim Harr.
Wer zu Hause gerne einen guten Tropfen edlen Weines genießt, möchte diesen natürlich gerne zuerst probieren. Deshalb veranstalten die Harrs jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit ihre offenen Advents-Weinproben, bei denen die Besucher die angebotenen Weine kostenlos probieren können.
„Ein Teegeschäft war mein Kindheitstraum“ erklärt Margarete Harr. Als kleines Mädchen hatte sie in den Ferien an der Nordsee immer die vielen schönen Teeläden bestaunt. Ihr Traum ist Wirklichkeit geworden. Kaffee, Pralinen, Schokolade und allerlei Zubehör ergänzen das Tee-Sortiment. Sie berät die Kunden in Sachen Kaffeevollautomaten und Siebträger-Espressomaschinen und gibt viele Tipps für den perfekten Espresso. Außerdem stellt sie Präsente und Geschenkkörbe ganz individuell nach den Wünschen der Kunden zusammen und verpackt diese mit viel Liebe zum Detail.
Wenn man den nostalgisch gestalteten Gourmet-Laden betritt, wird man von Kaffee-, Tee- und Schokoladenduft empfangen. „So einen Laden findet man eher in einer Großstadt“, sagen die Kunden. Das ist für die beiden Leutkircher ein großes Kompliment und bestärkt sie, auf dieser Linie weiterzuarbeiten. Sie sind sehr glücklich in ihrem „Tante-Emma-Laden“. „Wir möchten uns als ausgefallenes Einzelhandelsgeschäft von den Filialisten abheben und nur das Beste anbieten“, ist ihre Firmenphilosophie. Sie verkaufen nichts, wovon sie nicht selbst voll überzeugt sind. „Qualität und persönliche Betreuung sind unser oberstes Gebot“. Und es ist dabei immer auch Zeit für ein Schwätzle.
Nur eins fehlt bisher: die Rabattmarkenheftle. Aber wie sagt man so schön: Was nicht ist, kann ja noch werden.